Die erste Ringvorlesung an der Volkshochschule Bern behandelt «Reizwörter der Gegenwart». Sie lädt Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu ein, in sieben Einheiten über Reizwörter nachzudenken und mit ausgezeichneten Denkerinnen und Denkern zu diskutieren.

Ein Beitrag von Andreas Mauz

«Die Welt», meinte Karl Kraus, «ist durch das Sieb des Wortes gesiebt.» Damit ist in aller Kürze gesagt, was Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie im Detail entfalten: Wir ergreifen die Welt durch Sprache. Nur durch sie können wir uns klar machen, was en gros wie en détail der Fall ist; nur durch sie können wir uns über die Wirklichkeit austauschen und sie damit auch gestalten. Dass das Wort effektiv ein Weltsieb ist, wissen wir, weil wir es täglich mit sehr verschieden gesiebten Welten zu tun bekommen: Je nach Sieb sehen wir nicht nur verschiedene Anteile der Wirklichkeit, sondern diese Anteile in verschiedenen Ansichten. Je deutlicher sich diese Ansichten eines Wirklichkeitsausschnitts aber unterscheiden, umso unabweisbarer wird die Frage, woher die Siebe, die sie hervorbringen, eigentlich stammen. Warum dieses Sieb, warum nicht jenes? Die Frage mag trocken erscheinen; wie brisant sie im konkreten Fall sein kann, zeigt die Gegenwart: Putin führt seinen Aggressionskrieg auch auf dem Feld der Sprache. Er verordnet ein bestimmtes Sieb. Wer das, was in der Ukraine passiert, öffentlich als «Krieg» statt als «Militär-» oder gar als «Friedensoperation» bezeichnet, kommt in Schwierigkeiten. Das verordnete Sieb ist das der Propaganda. Wer es nicht akzeptiert, beharrt darauf, dass die hässliche Wirklichkeit und damit auch die, die sie verursacht haben, beim Namen genannt werden müssen.

Die Sprache der Propaganda ist aber nur der deutlichste Ausdruck für das subtile Zusammenspiel von Wörtern und Welten. Wie nötig es ist, über dieses nachzudenken, zeigt das Phänomen des Reizwortes. Wenn eines fällt – sei es «Identitätspolitik», «Klimakrise» oder «Kunstfreiheit» –, steigt die Spannung; durch das kontroverse Wort steht ein kontroverses Stück Wirklichkeit zur Debatte. Das Reizwort provoziert zum Positionsbezug: zu einem deutlichen Pro oder Contra. Der reflexartigen Reaktion auf Reizwörter, die oft genug Probleme anzeigen, die gerade kein einfaches Pro oder Contra zulassen, kann man sich aber entziehen. Man kann sich klar machen, dass man es mit einem Reizwort zu tun hat, und wie dieses funktioniert. Am Beispiel des «Verschwörungstheoretikers»: Dass es sich um ein stark reizendes Wort handelt, zeigt seine einseitige Gebrauchsweise. Menschen bezeichnen sich nicht selbst als Verschwörungstheoretiker_innen, sie werden so bezeichnet. Als Fremdbezeichnung erfüllt das Wort den Zweck, die betreffenden Wissensansprüche als absurd und die geistigen Kompetenzen, derer, die sich äussern, als zweifelhaft auszuweisen. Das mag durchaus so sein. Dennoch ist dieses Reizwort mehr als nur das, es ist eine Kampfvokabel, die die Debatte nicht öffnet, sondern schliesst. Sie entlastet den, der sie benutzt, davon, sich weiter mit den jeweiligen Zusammenhängen befassen zu müssen. Und sie funktioniert zumindest innerhalb der eigenen Fraktion oft auch ohne genauere Auskunft darüber, wie das betreffende Sieb arbeitet und was es allenfalls auch ‹versiebt›. Denn was ist mit «Verschwörung» und «Theorie» eigentlich gemeint? Wäre die Rede von einer «Verschwörungserzählung» oder auch von «Desinformation» vielleicht besser, weil stärker beschreibend und weniger auf die Person gespielt?

So nötig es also ist, in kontroversen Sachzusammenhängen kritisch Position zu beziehen, so nötig ist es, auch dem involvierten Vokabular – dem fremdem wie dem eigenen – gegenüber kritisch zu bleiben.

Zum Autor: Andreas Mauz ist Literaturwissenschaftler und Theologe. Er lebt in Basel.

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Kursstart am 19. April 2022.

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